Hamburg HBF, 12. Vermessung

19. Oktober 2007, Text: Manfred Milz

Bettina Wagners Vermessung des Hamburger Hauptbahnhofs

Gekleidet in einen roten Overall, eine rote Kappe auf dem Kopf, steht es auf einer Plattform im herbstlichen Silberlicht, auf dem Rücken einen roten Rucksack, in der linken Hand einen Notizblock, in der rechten eine Messlatte, auf deren Skala sich rote und schwarze Intervalle regelmäßig abwechseln.

Zwischen zwei Gleisbetten, auf einem Bahnsteig inmitten von Bahnsteigen, Mensch inmitten von Menschen, unirdisch und doch arbeitend, schreitet das rote Ausrufezeichen in den Intervallen voran, die ihm die Messlatte vorgibt, notiert, marschiert, notiert, marschiert, notiert, marschiert ..., bahnt sich seinen Weg durch Trauben von Menschen, die beständig Gestalt und Anzahl wechseln, metamorph, um in andere Menschentrauben überzugehen oder sich zu vereinzeln. 

Selbstvergessen oszillierend, rhythmisch pulsierend, hangelt sich das leuchtend rote Ausrufezeichen mit konsequent stringenter Sturheit durch die Koordinaten von Zeit und Raum, ganz so, als existiere seine Mitwelt kaum. 

Schritte = Notizen = Schritte = Notizen = Schritte = Notizen, sein Maß führend, geführt vom schwarzroten Wechselspiel seines Maßes, millimeterpräzise auf den Punkt gebracht. Verändern meiner Schritte Zeit spurlos verschwunden den Raum? Geronnene Blicke, verrinnende Blicke, vorüber driftende Gesichter, die der Augenblicklichkeit eines Enigmas ausgesetzt, unter Kurskorrektur irritiert zu Fragezeichen gerinnen, angesichts einer Einheit mit sich, die auf Maß gründend jenseits der Norm voranschreitet, im Abseits mittendrin den menschgemachten Wertekanon in Frage stellend. 

Gleichmäßig fortschreiten in Sensation des Alltäglichen, mit des kindlichen Blickes wortlosen Staunens der Anmaßung begegnen, im ernsten Spiel die Macht der Gewohnheit exponierend zu enteignen, um unfreiwilligen Augenzeugen durch Zwecklosigkeit hindurch den Weg zurück in ihre Kindheit zu eröffnen.