Hannover HBF, 11. Vermessung
03. Oktober 2007, Text: Sigrid Brinkmann
Genau sein , aber nicht akribisch
Opaker Himmel, diesige Luft. Sie steht kerzengerade auf dem Bahnsteig wie ein senkrechter, hochstrebender Stift auf grauem Asphalt. Wie ein leuchtend rotes Ausrufezeichen. Und strebt einem Schild zu, das den Buchstaben „H“ trägt. Eine rote Lampe leuchtet darüber, ein weiß-rotes Band mit gelbem Pfeil weist eine Richtung. Von hier aus nimmt die vermessene Aktion ihren Lauf. Gebeugt führt sie eine Meßlatte am Boden, körperlang, die Lippen zählen die Schritte mit, ein erstes Innehalten – die Hand zieht Stift und Papierblock aus der Brusttasche und notiert etwas. Weiter. Dieses Signalrot da auf den Gleisen: ein alter Regionalzug. Meine Augen suchen die Ankunfts- und Abfahrtstafeln. Die Segmente der Bordkante sind vielversprechender. Wie ihr Tun den Blick der Nachfolgenden auf den Boden zwingt. Dann haftet er sich wieder an ihren Rücken und schweift ab über die Gleise, hinaus über das von eisernen Linien durchschnittene Gelände des Bahnhofes. Warum nur sehe ich überall Vertikalen und Horizontalen, die, grau und schwarz, dem Himmel Raum nehmen? Dirigiert sie etwa mit ihrer Meßlatte den Blick?
Ihr behender Gang wird durch keinen Passanten gebremst. Nichts scheint sie aufhalten zu können, aber jedes hochhängende Buchstabenschild auf dem Bahnsteig ist ein Halten wert. Ein Schwenk nach links: Das erste Wartehäuschen wird in der Breite vermessen. Zur Rechten ein wartender Zug. Der Lokführer geht in seiner Kabine bei offenem Fenster hin und her. Sein Blick scheint den gegenüberliegenden Bahnsteig abzusuchen. Dabei tragen beide eine rote Mütze. Warum sieht er denn nicht, dass auch sie für diesen Moment zum Bahnhof gehört, so wie er?
Die Wartenden auf dem Bahnsteig: beschäftigt mit Nicht-Hinsehen. Dann doch lieber die Aufmerksamkeit wieder mal auf Querstreben richten, Strukturfelder überall. Seltsam zerteilte Welt. Nicht hässlich, aber so viele feste Körper. Ein älteres Paar tritt auseinander, um ihren energischen Schritt nicht zu bremsen. Die Frau schaut neugierig und ein wenig irritiert auf die schwungvoll geführte Meßlatte. Bilde ich mir ein, dass sie stehen bleibt, etwas notiert, um der Frau eine Chance zu geben, zu fragen: „Was machen Sie hier?“ oder „Heute ist der 3. Oktober, ein Feiertag. Warum gehen Sie an diesem Tag auf dem Bahnsteig entlang mit einer Latte in der Hand? Was haben Sie in Ihrem roten Rucksack, den Sie nicht absetzen? Ist das nicht lästig, solch einen Rucksack zu tragen, wenn man sich so oft wie Sie bückt und aufrichtet und bückt und aufrichtet? Wird Ihnen nicht schwindelig? Die Farbe Rot steht Ihnen gut. Selbst der Lippenstift hat die Farbe ihres Overalls und Ihrer Mütze. Ist Rot ihre Lieblingsfarbe? Sie sind ein schöner Farbtupfen in diesem Grau hier. Was schreiben Sie da in Ihren Notizblock? Sind Sie aus Hannover? Wohin geht die Reise?“
Kein Wort wurde gesprochen, nur stumm geschaut. Das Paar verschwindet auf der Rolltreppe.
Sie bückt sich nicht mehr so tief, sondern nimmt nun in der Luft Maß. Ihr Schritt verändert sich. Bestimmt kennt sie das Maß ihrer Füße. Sind die jetzt der Maßstab? Ist der Wechsel Ausdruck ihrer Könnerschaft oder nur eine Laune?
Jetzt notiert sie wieder etwas. Die Latte liegt am Boden. Sie steht mit gespreizten Beinen lässig darüber. Erinnert mich an einen Bauarbeiter.
Jetzt führt ihr Weg nah vorbei an Wartenden. Zwei junge Leute hocken neben ihren Rucksäcken. Unter einer Anzeigentafel. Zwischenstopp auf Augenhöhe. Wenn das kein Angebot ist. Sie bindet ihre Schnürsenkel zu. Keiner spricht sie an. Sie vollzieht eine Aktion. Das ist doch augenfällig. Aber auch ihre Aktion ist still. Eine Geste. Mehr nicht?
Fast tanzt sie jetzt mit ihrem Stab. Sie stürmt voran. Sie folgt einer Linie: längs oder quer. In die Diagonale auszubrechen, das kommt nicht in Frage.
Ihre rote Mütze. Ja, sich den „Hut aufsetzen“, warum nicht? Sagen, wo’s lang geht, weithin erkennbar.
Jetzt tänzelt sie dem „H“ am anderen Ende des Bahnsteigs entgegen. 290 Meter steht unter dem Schild. So viele Meter hat sie abgeschritten? Und wie viele Minuten laufe ich schon hinter ihr her?
Sie dehnt die Grenze aus und strebt zum „G“. Dort beginnt der Quai sich zu verjüngen. Wie stark der weiße Notizblock leuchtet, wenn sie ihn vor ihren roten Overall hält. Er blendet geradezu. Vorbei! Der Stab wird geschultert. Leichtfüßiger Schritt auf ganz gerader Linie. Die Frau ist diszipliniert. Es kostet sie keine Anstrengung.
Ein Lokführer beugt sich aus dem Kabinenfenster und redet mit einem Schaffner über „Hobbies“. Ich würde gern einen Moment stehen bleiben und sie belauschen, aber sie legt schon wieder ihre Latte an und vermisst nun die Quere des Bahnsteigs. Auf der anderen Seite der Gleise stehen drei Schaffner mit roten Mützen. Sie lachen, sie schauen zu ihr hinüber und finden ihr Tun vermutlich spaßig. Erst als plötzlich ein vierter Schaffner hinzutritt, wirken sie geniert. Vielleicht glauben sie, ihm ihr Lachen erklären zu müssen. Was kann man schon sagen? Da geht und steht eine leuchtendrot gekleidete Frau und vermisst ein Stück öffentlichen Raumes. Dies hier ist aber ihr Revier. Hier haben sie für Sicherheit zu sorgen. Eigentlich ist die Frau eine Behinderung so nah an der Treppe. Was maßt die sich an?
Einer zieht ein Handy aus der Hosentasche, er strebt zum Wärterhäuschen und telefoniert. Es dauert keine Minute und ein Schaffner tritt zielstrebig an die Frau heran. Wer käme auf die Idee, sie wolle provozieren? Sie vollzieht fast lautlos und entschlossen Gesten. Sie will nichts hier. Aber sie wäre offen für ... Worte. Da bekommt sie nun was zu hören. Der Mann spricht schnell, er fragt nach einer Genehmigung für ihr Tun. Nach der Berechtigung. Wie soll sie ihm denn erklären, dass sie sich selbst ermächtigt, etwas Ungewöhnliches in den Alltag zu tragen?
„Da oder da sind die Türen. Verlassen Sie bitte den Bahnhof. Lesen Sie die Hausordnung durch. Dies ist ein Verstoß. Gehen Sie.“
Sie geht und tritt hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. In wenigen Minuten wird der Overall vor den Augen einiger ausgezogen worden und verstaut sein im Rucksack, der, geschultert, mit ihr zurückkehrt in die Stadt mit dem größten Kreuzungsbahnhof Europas.