Dresden HBF, 3. Vermessung

19. März 2007, Text: Inger Kock

Bahnhof

Erstens das Eintreten, sage ich mir. Da ist diese Schwingung. Immer auf Bahnhöfen, auch hier. Es schwingt sich ein, dann aus. Es atmet, dieses Tier atmet sich ein, dann aus. Mein Gefühl ist, es saugt mich ein, das ist der Einatmungszug. Später, wenn das schrille Pfeifen einsetzt, und der Zug wegfährt, heraus aus der riesigen Halle, dann saugt es mich aus. Das ist der Ausatmungszug. Das klingt seltsam, ist es nicht. Denn das Saugen geht in die andere Richtung, dort draußen hinein, saugt sich aus der Ferne fest. Ist nur noch die Ferne, das was sich entfernt, was nicht mehr habbar ist. Sich nicht messen lässt, sagt die Frau. Ja, sie weiß es. Sie bekennt sich zu Bahnhöfen in ihrer Messbarkeit, wo ich doch diese großen Höfe, diese allzu großen Höfe nur in ihrer Unermesslichkeit erlebt habe.

Bettina Wagner - Dresden HBF, 3. Vermessung

Es ist Geschichte, wenn ich es so sage, gemeint ist aber meine. Meine Geschichte. Ich sehe es so, aus der Ferne, in Bezug auf diese Richtung die meine Kindheit meint, um eine Zeitspanne heraus zu kristallisieren. Ich war damals ein Kind, und fuhr viel Zug. Zügig, würde ich meinem Vater sagen, ich fahre zügig Zug, und er würde mich dann lustig finden, und ich hätte einen glücklichen Augenblick erlebt. Falls.

Die rot gewandete Frau jetzt, hier in dieser Zeit, misst das Ermessbare. Sucht Zonen des Bahnhofes aus, zuckt das Messband auseinander, eine Schlange der anderen Art, und misst dann. Sie tut es gewissenhaft. Sehr konkret. Schreibt auf. Ich kaue an der Unermesslichkeit, die ich meine. Stehe neben ihr, gehe mit ihr, hin und her. Sie geht lang und länger, quer auch, dies eher selten. Sie bleibt stehen, misst. Macht große Schritte, dann kleinere, so wie sie sie machen kann, denn sie ist zart und zierlich, eher klein. Es ist fast vermessen, daß so eine wie sie Bahnhöfe misst. Vielleicht ist dieser Sog in ihr, ins Unermessliche zu schreiten, über den Bahnhof hinaus, den sie gerade vermisst, und dabei weit zu werden. Über diesen Akt des Messens zu wachsen, ein Erweiterungsprozess. So viele Bahnhöfe vermessen, so weit geworden. Hm?

Ich kann es fast verstehen, also mit dieser Erklärung gehe ich auf dem Bahnsteig auf und ab, begleite ihre Bewegungen, sortiere dabei meine Gedanken, dazu jene die ich ihr zuschreibe, ich kann nicht wissen, was sie denkt, bloß erwägen, nach meinen innersten Wünschen, was in ihr vorgeht.

Es ist Kunst, sagt sie. Und es ist Wissenschaft, denke ich. Denke an dieses lange Messband, das sie ausgezogen hat, rhythmisches Zig-Zag-Ausziehen, dann ist es einfach da und darf gebraucht werden. Das Maß des Bahnhofes, eher eines kleinen Teiles, meint sie. Und meint zugleich, daß sie es mitnimmt, das Ermessene. In ihrem Heftchen, jedes Mal unter gezücktem Kuli. Sie schreitet hin, bis ans Ende des Bahnsteiges Nr. 18. Kein Zug, Ruhe hier oben. Sie misst, niemand stört ihr Messen, mein Mitgehen. Von gegenüber fallen einige Blicke auf uns, vom anderen Bahnsteig her, wenige Menschen dort. Zwei Gleise zwischen uns. Sie können nicht fragen, sie sehen. Wir müssten laut schreien um uns zu verständigen Ein Zug fährt dort ein, fährt aus. Ein paar Menschen werden von den Treppenschachten abgesogen und verschwinden stufenweise aus unserem Blickfeld. Sie haben nicht zu uns geschaut. Wir werden davon nicht berührt. Sie misst. Ich erwäge den Sinn.

Es wird mir immer klarer, was dies bedeutet. Sie will in den zuschauenden aufmerksamen Mitmenschen die Bewusstheit erwecken über das Bewusstseins über einen zu ermessenden Bahnhof. Falls, also. So sagte sie es, als sie auf dem Bahnsteig erschien, aus ihrem Zug kommend, im roten Monteuranzug, eine Energie ausstrahlend die weithin sichtbar war.

Ich soll darauf achten welches die Wahrnehmung des Publikums beim Messen ist. Da es kein Publikum gibt, außer vorhin, vor Ankunft dieses Zuges, die wenigen Menschen dort gegenüber, unerreichbar sie, und wir für sie, fällt das aus. Ich bleibe übrig, sozusagen. Aber schließlich habe ich ja eine Wahrnehmung, und mache mir Gedanken. Frage mich dabei selbst. Bin ihr Publikum, meines auch.

Sie hat sich entschieden hier oben zu messen. Es ist so unglaublich ruhig hier. Unerwartet. Das soll ein Hauptbahnhof sein! Wieso haben wir nicht auf die Tafeln mit den Stundenplänen geschaut?, dann hätten wir aussuchen können, welches Gleis, und hätten mit vielen fragenden neugierigen Menschen rechnen dürfen. Oder?. Hier kommt erst in einer Stunde wieder ein Zug vorbei, d.h., bleibt stehen, fährt weiter. Nach Prag, oder von. Oder nach Budapest, oder von dort. Über Prag. Es ist Gleis achtzehn.  Ich schaue hoch, da oben ist ein rundes Fenster, es hat visuellen Zugang, also das Fenster, zur großen Halle, die, in der das Unten mit dem Oben eins sind, die unter dem riesigen hohen Zeltdach atmet, ein und aus. Ich blicke hoch, weiter.

Dieses Dach da oben ist weiß, der helle undurchsichtige Kunststoff scheint immer aufgebläht zu sein, bietet eine Wölbung von einem der Dachträger zum anderen. Diese sind alt, aus Metall. An gewissen Stellen wird die Struktur fast botanisch, mein Auge folgt den Strebern die wie Pflanzenstiele hoch ragen, sich aufatmend begegnen, kurzweilig zusammen verbleiben, schmiegsam sich einander kuscheln, dann sich in den Himmel öffnen. Wie eine Hand die dorthin, wo die Erde Himmel heißt, eine Gabe darbietet. So scheint es mir. Es erinnert mich an die Palmenblätter hoch oben in den Ruinen einiger ägyptischen Tempel. Da ist also auch das Atmen, denke ich, auch dorthin die Bewegung zu einer Begegnung hin. Eine kleine Geste, erstarrt in Eisen, beharrlich den Bombardement des Krieges überdauernd, da steht sie. Weist uns damit in eine andere Dimension.

Da erscheint mir ein Engel, oder ist es meine Schwester? Sie steht dort unten, ganz weit weg, wo der Bahnsteig schon fast seinen Namen verloren hat, wo die Schienen zwischen Gräsern führen, wo sie glänzen und warten. Sie steht schon außerhalb der Halle, die Sonne fällt senkrecht auf sie hinab, es ist Mittag, heiß, ruhig, eine riesige Stille, diese Stille die nur ein Bahnhof erträgt in seinen Sekundentaktzeiten, sie zeigt auf die wilden so freien Blüten zwischen den Gleisen, hellblau, rosa. Sie, diese Schwester, hat „eine Neigung zur Weite“, sie sagt es, lächelt dabei so seltsam, das kenne ich nicht an ihr. Sie zieht mit ihrem Lächeln irgendeinen geheimen Genuß aus ihrem Innern in diese Atmosphäre der im Gras Versteck spielenden Gleise. Es muß eine historisch weit entfernte Lust sein, so weit wie die Gleise es anspielen. Denn über sie kommt man überall hin. Fast überall. Beim Ozean machen sie halt. Vielleicht hat sie in diesem Augenblick, wo sie die Weite meint, etwas ganz anderes ins Spiel gesetzt. „Der Bahnhof“, sagt sie, dabei dreht sie ihren Körper zu den hohen Wölbungen hinter sich, “ist doch ein Ort wo ich gehen kann. Ich werde abgeholt.“ Wieder fühle ich ihren Genuß bei diesem Satz, wieder ist ihr anderes, unbekanntes Lächeln da. „Der Bahnhof“, sie hält inne, entscheidet sich, es zu sagen, das was in ihr rumort, „der Bahnhof ist wie ein Rettungsengel“, sie schweigt, ihr Blick irrt zu den Blüten dort, „er bringt mich doch weg...“ Es ist etwas Schmollendes an ihrer Lippen. Ich habe jetzt das Bild, sie meint ihre Kindheit.

Ich wende mich ab von dieser Geschichte in meiner Geschichte, herab zu dem leichter Ermessbaren, den Boden dieser Wirklichkeiten: Bahnhofsteig, Breite, Länge. Entfernung zwischen Bänken, zwischen Pfeilern, zur nächsten Bank, zu dem Kofferkulistand, zum nächsten Pfeiler. Immer die eine Richtung, von Leipzig nach Prag, sozusagen, der Sog dahin. Eine Bank, noch eine, die Entfernung zwischen ihnen, und die gedankliche – noch unermeßbare - Entfernung zu anderen Bänken die sicher, ganz bestimmt, in Prag oder Budapest oder dazwischen bahnhöflich warten.

Dann Entfernung zu den Treppenschächten, vorbei am „Verbundkartenentwerter“, wo wir nichts zum Entwerten haben, bloß einige kleinliche Gedanken, wie der, wieso nicht rauchen, oder warum unbedingt rauchen wollen, nur hier nicht dürfen, wie eine Ansage aus dem Lautsprecher wiederholt. Ich stutze bei den Treppen, sie schauen sich zu, sind sich gegenüber, offenbar muß man zwischen ihnen wählen, denn beide heißen „Ausgang“, obwohl „Abgang“ logischer wäre.

Wir machen noch nicht unseren Abgang, weder ohne Zuschauer, noch nur mit uns. Die Rotgewandete in ihrem Hosenanzug zieht weiter, misst. Sie tanzt dem Objekt ihrer nächsten Begierde entgegen, jeder Schritt ein Streben nach Perfektion, ihre Haltung königlich, eine zierliche Königin im roten Monteuranzug die sich herab lässt um auf Erden etwas zu messen das ihr selber völlig fremd ist, nicht zu ihrem Leben gehört, durch diesen Akt der Ermessung aber auf eine besondere Ebene steigt, sich anfühlt wie ein Kunstobjekt das fließt, das wirklich wird in selben Augenblick in welchem es unwirklich wird, da nur noch Ziffer. Ich sehe zu. So ist es.

Es ist unfassbar, es ist unmöglich. Da niemand fragt, außer mir, die ich nichts verraten darf, die sozusagen zu dem Werkzeug des Kunststücks gehöre, des Kunstaktes muß ich sagen, gerät das ganze Schauspiel in eine weitere – eventuell messbare - Distanz. Es besteht bloß aus einem Willen der gewollt werden will. Aus der Entfernung zwischen den tatsächlichen Dingen wird eine Entfremdung, und dann bin ich sicher, daß es wahr ist, was geschieht, und nichts anderes bedeutet, als das was es ist. So ziemlich das Letzte-Zu-Nennende, also.

Auf dem jetzt unbedachten Steig, gemeint ist unter freien Himmel, also näher an Prag, stehen 18 Pfeiler. An ihnen sind oben Laternen befestigt, die jetzt noch nicht wirklich sind, sie werden es erst in der Nacht. Die Königin in Rot misst die Entfernung eines Pfeilers zum anderen, schreibt auf, misst erneut die letzte Strecke, nickt in ihr Heftchen hinein. Schaut in die Ferne. Hier wird sie irgendwie fassbarer. Die Ferne. Kein Zug verhindert die Aussicht, da liegen die beiden Doppelgleise, sie sehnen sich dort hinten hin. Hinten ist weit, wieder das Gefühl der Entfernung, das unmessbar ist, die Sehnsucht nach weiter weg. Nicht zu messen. Meistens auch nicht zu nennen. Wer kann seine Sehnsucht nennen? Der Steig hört auf, Erde, Gras, es ist Mai, es grünt kaum. 

Wir machen jetzt unseren Abgang von Gleis 18, versinken stufenweise aus der leicht zugigen Stille hier oben. Sind unter Menschen, ziehen ihnen nach, schauen auf das Messbare. Sie entscheidet, schreitet ihre Schritte ab durch die Kreuzhalle, die neu eröffnete, in die das Licht von der Kuppel oben ungehindert bis auf den Boden flutet, nach 60 Jahren. Sagt sie, die Kuppel, denke ich, daß sie es sagt. Das Licht hat gewartet wieder hier fluten zu dürfen, es grüßt dich, oh schöner Tag, hier unten, grüßt uns, die wir auf der schwarzen Fliesenlinie stehen, sie messen, dann im Winkel zu ihr die nächste Linie, dann nochmals. Eine Wand. Messung aus.

Zwei Frauen wollen meine Königin etwas fragen, sie weist auf mich, ich bin die beauftragte Beantworterin. Das ist ein interner Titel, sie nennt ihn nicht, ich nicht. Ich habe mich schon vorbereitet, was ich zu ihrer vermutlichen Frage sagen werde, habe Varianten dazu auf Lager. Die Frage lautet: „Wie kommen wir auf Gleis 18? Wir reisen nach Prag.“ Messbar. 

Viel später, alle Züge sind an diesem Tag schon aus meinen Leben gezogen, stehe ich in einem Buchladen, über dem Regal der „Architektur-Bücher“ steht: „Wo die Kunst auftaucht, verschwindet* das Leben“ -  Francis Picali.

Ich stecke beide Hände in meine Brust und ertaste mein Herz, frage es nach dem Sinn. Halte es fest. Ich bin es die allem einen Sinn gibt. Dieses Messen ist meine Tat.

Zurück
Zurück

Leipzig HBF, 5. Vermessung, 07.06.2007

Weiter
Weiter

Wiesbaden HBF, 4. Vermessung, 03.04.2007