Leipzig HBF, 5. Vermessung

7. Juni 2007, Text: Silvio Pfeuffer

Die Pilgerin der Bahnhöfe

Die Orte sind dazu da, sie wiederzufinden. Man gibt ihnen Namen, macht Karten in immer denselben Umrissen und übersetzt sie in verschiedene Sprachen. Damit schwindet aber auch die Anstrengung, die Orte wiederzufinden. Das Wiederfinden ist nicht mehr nötig, um anzukommen. Es bleibt eine diffuse Schuld gegenüber dem Ort, weniger Sensible, die allerdings schicker wirken, klagen über ihre Ortlosigkeit. Die es satt haben, die zynisch sind, stellen die berechtigte Frage, ob man sich überhaupt vom Ausgangspunkt entfernt, wenn man verreist. Aber die Fragen gehorchen immer einer bestimmten Metaphysik, und diese hat man in den Bahnhöfen schnell ausgemacht. Die Bahnhöfe sind die Orte, die alles mit allem verbinden, und eben darum kein Ort. Sie haben etwas Artifizielles, mit dem es ernst geworden ist. Sie sind durchsichtig für die Orte, auf die sie verweisen, und der Blick heftet sich an Anzeigetafeln, an einfahrende Züge und Menschentrauben, um vor dem, was man alles sehen kann, nicht die Orientierung zu verlieren. Denn stehenzubleiben – dazu ist ist man nicht legitimiert, man ist auf dem Bahnhof überhaupt nur, sofern man ihn überquert. Dementsprechend kurz sind die Menschen angebunden, ob sie sich wiedersehen oder gerade trennen. Im übrigen bleibt hier jeder menschliche Seim an einem hängen: Hoffnungen, Enttäuschungen, Verletzungen, Glück. Man erkennt auf die Dauer kein Gegenteil darin. Ergo wird es für einen selber gefährlich, und man versucht so schnell wie möglich von hier fortzukommen, wie alle anderen. Der Bahnhof löst einen in seine Instinkte auf, aber keiner scheint vor dem anderen zu kommen. Instinkte ohne Priorität, in alle Richtungen offene Instinkte, die allein das Fortkommen verbindet: Immer scheint hier alles gesagt und gibt es doch noch ein Wort darüber zu verlieren. Man wird nicht fertig mit den Bahnhöfen.

So auch an diesem Tag, als eine Frau im roten Overall aus dem ICE von Berlin stieg und mit einer Art versteiften Zollstock oder Messlatte, die ungefähr ihrer Körpergröße entsprach und schwarz-rot lackiert war, den Bahnhof vom Bahnsteig 10 an zu vermessen begann.

Meine erste Reaktion bestand aus Selbstmitleid und Spott über sie. Also eine Art Verwandtschaft, Luft, die man mit der Hand in zwei Hälften schneidet. Eingeholt wurde ich von der Überlegung, dass sie hier keinen Schritt gehen wird, ohne einen Anfang zu machen. Aber Überlegungen sind bereits halbe Überzeugungen, und Überzeugungen sind Übertreibungen, das steht fest, und so hatte ich die Befürchtung, sie könnte darüber hinaus die Vermessenheit haben, ein Zeichen zu setzen. Aber sie schien sich, trotz ihrer absurden Tätigkeit, allen anderen Vorgängen hier zu fügen. Sie war leise, von unzugänglicher Zeit umhüllt, wie ein indischer Saddu, der auf den Knien rutscht oder über den Boden rollt, um seine Konzentration auf das Heilige tief in die Erde sickern zu lassen. Den Bahnhof könnte man auch ein Heiligtum nennen, das Heiligtum der Säkularisation, von der doch keiner weiß , was sie genau ist, wenn niemand sagen kann, worin das Religiöse besteht. Mein Mitleid rührte aus dem Besitz der Überlegung, was es heißen könnte, in einem Bahnhof einen Anfang zu machen. Aber würde es ihr gelingen, mich zu enteignen, so, dass diese Wahrheit keine Rolle mehr spielt? Welche Anzeichen gäbe es dafür? Kurz, es interessierte mich. Ich begann die Frau zu beobachten, wie sie in geübten, aufeinander abgestimmten Intervallen sowohl die Länge des Bahnsteigs als auch (von der gedachten Mittellinie ausgehend) die Abstände zu den gegenüberliegenden Bahnsteigen vermaß, sich die Ergebnisse notierte, um mit dem Grundriss eines Wärterhäuschens, der Telefonzellen und diverser Sitzgelegenheiten fortzufahren. Die missmutig strengen Blicke des Personals ignorierte sie ebenso wie die erstaunt bis belustigt dreinschauenden Fahrgäste. Es fiel mir schwer, ihre Souveränität zu verorten, abgelenkt von den Maßen, die sie in ihren Notizblock eintrug und die ich nicht wusste. Ich hätte sie danach fragen können, natürlich, aber in den Fragen, auf die es eine eindeutige Antwort gibt, liegt eine Missachtung der Person. Meiner Scheu korrespondierte die Kälte einer Sphinx, während ein alter Mann, der offenkundig nicht zu den Reisenden zählte, eine Anwesenheit aus ausgeschwitzter Biographie, Zigarettenstummeln und dumpf dagegen drückenden Stunden, mehrmals fast über sie stolperte, oder sich wie eine Taube neben ihr niederließ , so dass er ebenso unbemerkt wieder verschwand, sich abgewendet habend und an etwas denkend, das hier nicht hergehört.

Aber zu welchem Hier? Obwohl ich mich nicht fragen konnte, was hier passiert, konnte ich mich nicht fragen, ob überhaupt etwas passiert. Und das ging so weiter. Am Ende des Bahnsteigs angekommen, nahm sie sich nun das gesamte Längsgewölbe vor. Der Leipziger Bahnhof ist bekanntermaßen der größte Kopfbahnhof Europas und hatte trotz Modernisierung, der quasi verfassungsrechtlichen Ersetzung von Stein durch das Glas – Schaffung einer elaborierten, zwielichtigen Transparenz, in der man sich das Eigene wie Dreck abspülen soll, um gerade so sich gegenüber anderen zu behaupten – und der Ansiedelung von Geschäften nicht viel von der rüden Dominanz seines Volumens eingebüßt. Die Absurdität ihrer Vermessungen stach so ein weiteres Mal ins Auge, aber sie drohte auch, sich in der gähnenden Leere, die längst ihr gehörte, zu verlieren. Ich blieb stehen, bis ich sie im Augenzwinkern hatte. Ja, sie hatte den Bahnhof gewissermaßen auf ihre Seite gezogen, er leckte an ihren Schuhen, verschluckte sich an der verrichteten Arbeit, wie ein großes unverständiges Kind, das glaubt, Zahlen wären etwas, worin man mit den Fingern bohrt oder Ringelrei spielen kann. Und sie dehnte ihre Darbietung aus: den Stock vehement zwei- bis dreimal vor sich legend, auf der Grenze zu eigenen Dimensionierungen, nicht mehr so artikulär, wie sie es noch bei der Vermessung des Bahnsteigs tat. Sie benötigte jeweils zwei Schritte, um den Stock einmal umzulegen, wobei der erste immer ein wenig kürzer auszufallen schien. Um keine Innenkurve zu beschreiben, legte sie mit dem rechten oder linken Bein ab und an einen großen Schreitschritt ein. Sie verhedderte sich nicht, die unberechenbare menschliche Größe wurde aufgesogen von dem sich wie ein Uhrzeiger drehenden Stock. So stellte sich ein Animismus zwischen Gehen und Messen her, eine Übertragung des Vermessenen auf den Körper und die Ableitung des zusätzlichen Gewichts in Schrift. Reine, unvermittelte Arbeit, eine Arbeit am Gehen, eine Gehschule vielleicht. Sie hätte somit das, worin sie sich gefangen fühlte, selber erbauen können. Ist das die Rache der Gefangenen an ihren Wörtern? So fragte ich mich, indessen ein groß gewachsener, von gekauften Oberflächen bespannter und kettenrauchender Geschäftsmann mit einem von Hotelübernachtungen und stundenweisen Frauen ganz glatt gewordenen, gefährlich flankierten Gesicht die Wirtschaftswoche aufschlägt und in schwarz-roten Lettern die Überschrift liest: „Die Zahl meiner Gegner wächst“.

Nun, sie zählte bestimmt nicht dazu, ihr Triumph war anderer Natur. Auf der Höhe des siebten Bogens, die in ihrer Gesamtheit das Gebäude von der West- zur Osthalle stützen, blieb sie für eine Minute stehen und schaute nach oben. Erst dachte ich, sie würde die Höhe der Glasverdachung abschätzen, bis ich bemerkte, dass an dieser Stelle das Längs- und das Quergewölbe ein Quadrat bilden. Sie hatte einen für jedermann nachvollziehbaren, aber unbemerkt bleibenden Punkt eingenommen, dort, wo die Durchsichtigkeit des Bahnhofs für die Orte absackte, weil sie im Begriff zweier gleich langer Kanten lag, sich in den Sekunden verriet, die einander überholten und doch nicht von der Stelle kamen. Ein Leistenbruch zwischen Sehen und Gesehenwerden, aus dem die Unentschiedenheiten der Menschen ringsum quollen. Im Unterschied zu ihnen musste sie nichts mehr beweisen, nicht den kommunikativen Anschlüssen hinterherhasten – alles um sie herum bewies sie. Sie war der Mittelpunkt der Indifferenz des Bahnhofs zu den Menschen. So gab es für mich (und andere) keinen Grund, noch länger auf dem Bahnhof zu bleiben, doch bedeutete ihre Anwesenheit mir genauso, dass dies noch kein Grund war, zu gehen. Und diesen Satz hätte man ebenso umkehren können: nichts wäre dadurch falsch geworden. Sie war mit dem Bahnhof fertig geworden, weil ihr das Kunststück gelang, nichts an ihm zu verändern, und ich verspürte, aus einiger Distanz, einen Anflug von Neid: Ich möchte selber einmal so langsam einen Bahnsteig hinabgehen können, wie sie es jetzt tat, ich würde glauben, ich hätte gewonnen.

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Paris, Gare du Nord, 1. Vermessung, 20.11.2005

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Dresden HBF, 3. Vermessung, 19.03.2007