Wiesbaden HBF, 4. Vermessung
3. April 2007, Text: Rita Rosen
Haibun & Haiku
Bahnhofsvermessungsperformance
Es ist Februar. Ein grau-bleicher Tag. Der Wind weht lustig launig über den Bahnhofsvorplatz. Er drängt die Reisenden voran. Auch die kleine Frau. Die kleine Frau trägt einen roten Overall und eine knallrote Kappe. Sie schreitet geschäftig der Bahnhofseingangstür - zweiflügelig - zu. Diese öffnet sich - neuerdings - von selber. Ruhigen Schrittes betritt die Frau die Vorhalle. Sie geht bis zur Mitte. Sie sieht sich um.
Ihre Blicke schätzen die Länge, die Weite, die Höhe der Halle ab. Sie nickt zustimmend. Dann nimmt sie den Messstab, den sie leger unter dem Arm getragen hat, sie richtet ihn auf und legt ihn auf den Boden. Ein- zwei- dreimal. Schaut auf den Boden, den Messstab, die Zahlen. Nickt fachmännisch.
Dann geht sie weiter bis zum Gleisbereich. Die Gleise enden oder beginnen hier. Die Bahnsteige sind leer oder mit Menschen gefüllt. Züge fahren ein oder aus.
Es ist zugig. Die Winde sausen in die Halle und wieder hinaus. Sie wirbeln Luft und Staub auf. Die kleine Frau stört das nicht. Wieder nimmt sie die Messlatte und legt sie an, beginnt die Länge der Gleise zu messen, die Breite der Bahnsteige, die Höhe der Fahrangabetafeln. Sie nimmt ihr Notizbuch heraus und schreibt gewissenhaft Zahlen auf.
Sie muß sich Platz verschaffen. Platz zum Vermessen. Ihr roter Arbeitsanzug und die rote Mütze leuchten in der grauen Masse auf. Sie geht um die Menschen herum, durch Menschengruppen hindurch, sie bittet Menschen, den Platz zu räumen. Um zu messen. Was diese auch tun.
Wer immer die kleine rotgekleidete Frau erblickt ist erstaunt. Bleibt stehen, schaut sie genauer an, dreht sich nach ihr um. Die kleine Frau bückt sich nun immer wieder, kniet sich nieder, mißt. Die rote Kappe droht vom Kopf zu fallen. Sie schiebt sie zurecht. Sie mißt die ganze Länge des Bahnsteiges. Gewissenhaft notiert sie die Maße in ihrem Büchlein.
Zwei Frauen fragen sich, was die wohl hier macht? Lächelnd gehen sie weiter.
„Was machen sie hier“ ? fragt ein Neugieriger.„Ich vermesse den Bahnhof“ antwortet sie. Der Mann nickt beruhigt den Kopf.
Nun beginnt sie die Wände der Haupthalle zu vermessen. Sie legt den Messstab an die Wand, mißt, und schreibt die Maße wieder auf. Zwei Bahnhofspolizisten kommen vorbei, sehen die Frau, bleiben stehen, schauen aufmerksam alarmiert zu. Sie tuscheln miteinander. Dann schreiten sie gravitätisch auf die Frau zu.
„Was machen sie hier“ ?
„Ich vermesse den Bahnhof“.
„Was - den Bahnhof“?
„Ja“.
„Haben sie dafür auch eine Genehmigung“?
„Ja“
„Zeigen sie die Genehmigung bitte“.
„Erkundigen sie sich bei der Bahnhofsdirektion „ antwortet die Frau souverän. Sie wedelt mit der Hand. „Könnten sie bitte einen Schritt beiseite gehen, ich muß hier noch die Breite vermessen“. Die Bahnhofspolizisten gehen zur Seite. Sie schauen auf die Wand, auf die hochgereckte Frau, auf die Messlatte. Wieder tuscheln sie miteinander. Dann gehen sie eiligen Schrittes zur Direktion.
Nun geht die kleine Frau zu einem wartenden Zug. Sie will den Abstand des Trittbrettes bis zur Kante des Bahnsteiges messen. Sie erklärt den aus- und einsteigenden Reisenden ihr Vorhaben, sie bittet sie, Platz zu machen. Manche tun dies sofort, manche schütteln zweifelnd den Kopf und eilen dann weiter, einer zeigt ihr einen ‚Vogel‘ . Sie mißt und notiert, hebt den Maßstab auf und legt ihn wieder an, hebt ihn auf und legt ihn an. Und eilt so beschäftigt am Zug entlang. Kommt zurück. Beginnt wieder von vorne. Bis der Zug abfährt.
Dann eilt sie zurück in die Halle. Gibt es hier nicht noch einen Eckpfeiler zu vermessen? Ja, es stehen schön dekorierte Pfeiler vor den Gängen. Deren Durchmesser will sie ermitteln. Und sie mißt und rechnet und schreibt die Messdaten auf. Behende läuft sie und wirkt wie ein rotes Ausrufezeichen in der Halle, zwischen den Passanten, neben den Zügen.
Ich frage eine Frau, die lange zugeschaut hat, was wohl ihre Erklärung ist zu diesem Tun“ ?. „ Ach“, sagt sie, „es gibt so viele Verrückte heutzutage. Man kann gar nicht mehr hinschauen“. „Aber sie mißt doch“, sage ich, „dass kann doch nicht verrückt sein“. „So eine kleine Frau“ sagt die Passantin skeptisch „und so ein großer Bahnhof, wie will die das denn schaffen“?
Die kleine Frau im roten Overall mit wippender Mütze mißt noch lange. Doch dann hat sie den Bahnhof vermessen. Sie klemmt den Maßstab unter ihren Arm, rückt ihre Kappe zurecht, schaut noch einmal in ihr Notizbuch und klappt es dann zu. Sie steckt es in die Tasche.
Langsam geht sie durch die Halle, die Vorhalle, Schreitet bedächtig durch die Eingangstür, tritt auf den Vorplatz. Hier bläst der Wind wieder stärker um die verzierten Ränder des Portals, die Wolken haben sich auch noch nicht verzogen und drohen bald zu platzen. Das macht ihr nichts. Vor dem Gebäude bleibt die kleine rote Frau stehen, dreht sich um und schaut die prächtige Fassade an. Sie nickt zufrieden.
Dann geht sie ruhigen Schrittes zur Bushaltestelle.
eine kleine Frau
kann den großen Bahnhof vermessen -
wenn sie will
oder
kleine Frau will den
großen Bahnhof vermessen
ob der Messstab reicht ?