Gerstungen ehemaliger Grenzbahnhof, 7. Vermessung
23. April 2007, Text und Fotos: Titus Grab
Wo bitte, geht´s hier zum Bahnhof?
Gute Frage, meinen sie den alten, der der neue wieder ist, oder den neuen, der stillgelegt einhundert Meter weiter entfernt in den Dornröschen-Schlaf gesunken ist?
Der alte Bahnhof wird angefahren von privatisierten Bahnen, die im Fahrplan vor Ort vermerkt überregional jedoch totgeschwiegen werden, da der Immer-noch-Quasi-Monopolist Deutsche Bahn hier gründlich sabotiert. Eingeschlagene Scheiben und Sprayer Tags empfangen den Reisenden neben obligatorisch wehenden Wind und dem jahreszeitlich bedingten penetranten Geruch – von Duft lässt sich schwer schreiben – des blühenden Rapses: aha: eine Bahnstation auf dem Land hat sich jene Frau diesmal vorgenommen! Stimmt. Eine ganz besondere.
Sie sucht nach dem jüngeren der beiden Bahnhöfe, der absurderweise der stillgelegte von beiden ist, und findet kaum den Weg dorthin. Kein Schild, auch kein altes. Kein Bahnhofsvorplatz. Nicht einmal eine – auch noch so kleine Bahnhofshalle, nichts dergleichen!Gemeinsam bahnen wir uns den Weg durch Gestrüpp über bewucherte Betonplattenwege, eine Steigung hinan und eine steile Böschung hinab – und: stehen tatsächlich vor einem Bahnhof, der nie einen öffentlichen Zugang kannte, dennoch D-Zug-Länge besaß und besitzt (auch wenn ein Großteil der Schienen demontiert ist). Nicht einmal einen Fahrkartenschalter scheint es hier gegeben zu haben. Sie als Leser*in denken: „Das stimmt nicht? Ist ein böser Traum? Der Chronist fantasiert seinerseits?“- Nein, dem ist nicht so; und dennoch: hier, wo jene Frau aus Berlin nun in ihren roten Overall steigt und mit ernster Miene den 300 Meter langen Bahnsteig mit ihrem Maßstab in original hessischem Fuß-Maß zu vermessen beginnt, gingen die Uhren schon immer anders, relativierten sich die gängigen Begriffe von Raum und Zeit in spezieller Weise: hier standen die Züge fahrplanmäßig 45 Minuten lang still, erloschen im Abteil Lampen, kühlte winters die Heizung ab, rumpelten die Abteiltüren, pfiff – wie heute auch übrigens! – der Wind über die Anhöhe, strich durchs welke Gras umspülte Betonpfosten leise. Sparsam die Stimmen, laut der Schritt schwerer Stiefel. Deutsche (!) Schäferhunde, klackende Stempel, knappe Worte, biedere Uniformen im Dienstgebrauch, surreale Routine hier zwischen auch damals schon vorhandenen Rapsfeldern und Güterzug-Rangiergleisen.
Pulver-Kaffee und Apfelsinen auf Reisen ostwärts; lange Gesichter der wartenden gen Westen gerichtet. „Wie viel Verspätung werden wir heute haben?“ „Wir wünschen gute Reise“, sagte die Lautsprecherstimme gelegentlich. Nicht immer. Oder: „Herzlich willkommen in – “ Wo, ja wo nur trug sich solches zu? – Hier wo sie diese Frau in Rot heute die exakte Länge des Bahnsteiges und seine Breite allem herumliegenden Schutt zum Trotz ermittelt. Exakt hier, mitten im Land. Sie schreitet entlang, notiert in ihren Block die Zahlen, handelt in Ruhe, dokumentiert präzise, wägt ab, prüft nach, addiert, ordnet, rechnet nach, geht noch einmal zurück, überprüft, bestätigt, verwirft, korrigiert sogar, gibt eventuell einen Messfehler zu! – Halt! Gab es dies hier zuvor? Wurde hier nicht immer alles richtig gemacht? Konnten, ja durften hier Verfehlungen sein? Vermutlich nein. Hier herrschten Ordnung und Gehorsam und alles ging nach Plan. Wessen Plan? Ohne Ausgang? (Wie es ausging, wissen wir heute). Mit Weisungen Weisung von oben. Wo das ist, oben – und unten? Schien damals klar zu sein. Heute misst sie weiter. Kabel hängen herunter. Verstummt die Lautsprecher. Tot der breite Bahnsteig, zugemauerte Fenster und: ein munterer Buchfink. Wieder ein Wind. Das Rot ihres Overalls. Ihr Ernst. Wie damals, aber sie zog den Flieger vor, andere waren hier ernst: Taubengrau. Schulterklappen und die Frauen immer schlimmer als die Männer. „Pass auf, was du sagst!“ – so hieß es.
Weiter wandert die Sonne. Weiter schreitet sie entlang der Bahnsteigkante.
Hier war sie, die sogenannte innerdeutsche Grenze. Hier begann oder endete je nach Fahrtrichtung die Deutsche Demokratische Republik in Gerstungen Grenze (ein schäbiges Tor zur weiten Welt oder zu den Versprechungen des nie wahr gewordenen Sozialismus).
Die Bevölkerung nutzt den abseits des alten Dorf-Bahnhofs angelegten Grenzbahnhof zur Entsorgung der ersten Generation von Nach-Wende-Baumarktfliesen, erster Quelle-Couchgarnituren und Gefrierkombinationen. Hier wurden Koffer gefilzt, sollten Hunde Flüchtlinge aufspüren, öffneten Vierkantschlüssel Deckenverkleidungen, wehte ein Hauch von Auschwitz, nur ein bisschen und im Dienste des Fortschritts. Absurd, die Bemühungen über aus dem Westen importierte Streckgitter-Zäune die Welt und ein Land messerscharf in zwei Teile zu zerschneiden, und doch real; ebenso wie die Vermessungstätigkeiten jener Frau in Rot, die sich selbst genügen zu scheinen...