Ostkreuz, Berlin, 8. Vermessung
02. Mai 2007, Text: Tom Bresemann
Miniatur
Trotz aller Einschränkungen und Voraussetzungen; die Fülle der Daten überfordert mich. Was da im Scheibenspiegel bloßliegt, ist das noch Messwert? All die Einschränkungen und Vereinfachungen, die nichts anderes tun, als die Komplexität des Vorgangs als Handlungsgrundlage zu betonen. Das hat nichts von Identität – diese überbordende Akribie. Die Realität der Halsschlagadern ist selbst nichts als Symptom. Deshalb mein unbedingtes Plädoyer um Disziplin in der Tätigkeit. Trotz der Müdigkeit ist es 4.23.18 Uhr.
Ich beobachte. Mein Sachgebiet sind Meßwerte, die sich nicht zusammenfassen lassen: Diese Meßwerte sind Summe der Beobachtung. Ich interessiere mich nicht für Ergebnisse oder Schnittmengen, aus denen sich dann später etwas schlußfolgern ließe. Ich interessiere mich für Präzision, schlußfolgern ist nicht mehr Teil meines Forschungsgebiets.
Heute: Halsschlagadern. Halsschlagadern unter Sommer-Schals, neben geschwollenen Lymphknoten pulsierende Halsschlagadern, freiliegende Halsschlagadern, weibliche, männliche, kindliche, aufspritzende Halsschlagadern, noch fest zwischen Shirtnaht und Taschengurt verzerrt, unsichtbare, alte und junge Halsschlagadern, im Julispätnachtkunstlicht, im Schatten, nebenan im Sitz und gegenüber im Sitz, dicke und dünne, auf dem Weg ins Bett, ins Büro, ins Lager, usw. usf.
Zwei Wege: Eine einzige, willkürlich gewählte Halsschlagader über eine Stunde lang zu verfolgen, natürlich so weit es geht unbemerkt, oder, über eine Stunde lang willkürlich jede dieser auserwählten Halsschlagadern (denn es ist wirklich noch nicht viel los), die mir in den Weg geraten, zu verzeichnen. Ich entscheide mich für die erste Variante und bin noch nicht zu einem Befund gelangt, als es zu dämmern beginnt.
Die Stadt graut nach. Die Laternen spenden kaum noch nennenswert Licht, das übernimmt mehr und mehr die asphaltfarbene Haut des Himmels über der Straße, aus dem die einzelnen winzigen vorüberziehenden Funzeln, wie abschwellende Pickel ragen. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn man nur lang genug den Himmel beobachtete, gäbe auch er eine Halsschlagader frei.
Heute habe ich mir eine Frühschicht verschrieben: Beobachten und vergleichen. Obwohl ich doch weiß, dass jeder Mensch einzigartig ist, weiß ich doch auch, dass alles immer symptomatisch für etwas anderes, Wirklich-dahinter-Stehendes steht. Der sich langsam ins Licht klärende Himmel, ebenso wie die pochende Halsschlagader der älteren Dame, so früh schon unterwegs [und hier?], mir gegenüber in der Bahn. Und: Jedes Symptom verweist auf mögliche Identität. Und: Das macht es gar nicht so einfach, zu beobachten. Beobachten macht nur dann Sinn, wenn die zu beobachtende Beobachtung um ihr Beobachtetwerden nicht weiß. Es ist schwierig, diese Messungen mit der nötigen Beiläufigkeit durchzuhalten, jedoch geht es immerhin um unverfälschte Werte. Eine doppelte Schwierigkeit: Die Messwerte unterliegen Schwankungen, zum Einen durch mangelnde Genauigkeit im direkten Vergleich, zum Anderen durch das Bewußtsein dieser fremden, und nicht zuletzt auch der eigenen Halsschlagader, beobachtet und verglichen zu werden, und ihrer daraus resultierenden (verfälschten) Schlagzahl, denn wenn die Vermessung beobachtet wird, kann man sich selbst als unbeteiligter Beobachter von der Einflußnahme des eigenen Bewußtseins um das Beobachtetwerden der Vermessung nicht mehr lösen. Es entstehen verfälschte Werte. Keine Daten, nur mehr Zweifel. Und weiter. Weiterhin die Frage: Wird nicht das Bewußtsein im Beobachter um den Messwertverlauf innerhalb der dafür vorgesehenen Parameter durch das Bewußtsein bei der Beobachtung beobachtet worden zu sein, in Frage gestellt?
Und: Ist man es nun wirklich selbst, der sich da hinterm Spiegel betastet. Und: Ist man es tatsächlich selbst, der dort hinter der Scheibe, im Frühmorgenschein geboren wird?
Die Dame mir gegenüber weiß es nicht, aber sie ahnt etwas. Gleich werde ich sie ansprechen, um sie zu fragen, was sie denn denke, weshalb ich sie anspreche.