Südkreuz Berlin, 6. Vermessung
17. April 2007, Text: Monika Rinck
Gleis Sieben
Gleis 7. Derzeit in mir tobt und mault es. Der Bahnhof. Die Weite. Das sind Achsen. Wie für wen gebaut? Was? Aber besser als andere. Der erzogene Raum. Auf dem Dach erhöht, klimperndes Licht. Das sah ich, als ich ankam. Er liegt wie auf einem Hügel, auf einer hochgespulten Brache, inmitten provisorischen Raums, jedoch von Fahrbahnen eifrig durchquert.
Das Südkreuz wird umfahren. Ich begrüße alles, was den privaten Autoverkehr erschwert, Autos ruinieren Städte. Autos sind böse. Sie bringen Leben in Gefahr. Jederzeit. Sie verhindern, dass diejenigen sich freibewegen, die nicht motorisiert sind. Ist das nicht ein Skandal? Wie konnte man das nur so nachhaltig vergessen. Anders der Bahnhof, noch der ruinierteste Bahnhof ist anders.
Südkreuz, ein überaus unruinierter Bahnhof. Wo kommt man denn dorthin? Wann? Selten. Bald häufiger. Anderthalb Stunden nach Leipzig, von hier aus. Eine auch innerlich sehr erhöhte Halle, die stand-by-Bäckereien mit ihrer üblichen Beduftung, distanzarm. Gehört dieser Duft nicht in eine Stube? Man will diesen Duft hier gar nicht um sich haben, in den Transporthallen, in der in Weite aufgelösten Häuslichkeit. Das ist nicht mehr walking-distance, das ist eingeforderte Bewegung, die sich gehend nicht mehr absolvieren lässt.
Wie groß ist das Ding? Darum geht es doch. Da, sie nähert sich. Der Stock wird gedreht. Das scheint flink zu gehen. Dann wird wieder was notiert. Will ich denn wissen, wie groß etwas ist? Will ich sowas genauer wissen? Ich glaube, ich will, oder reicht es nicht aus, zu sagen: Das Ding ist größer als ich. Selbstverständlich ist der Bahnhof größer als du. Aber wie groß ist er? Oder: Wie groß wäre die Menge eines beliebigen Füllmaterial, wenn Leute diesen Bahnhof füllen müssten - an allen Ecken und Enden liefe es heraus. Was heraus? Weiß nicht was. Montageschaum. Hühnerbrühe. Styrodur. Zierkiesel aus den Steinbrüchen der südlicheren Welt. Was für eine Arbeit das wäre, sklavisch.
Verbesserung der Sauberkeit, Lautsprecherstimme. Rauchen sei nicht gestattet. Die Durchsage. Nun gut, das Rauchen hab ich eingestellt, bis auf Weiteres zumindest. Die Durchsage ginge auch noch durch einen massiv befüllten Bahnhof einfach durch. Die Durchsage als Säge. Wobei, käme es da nicht vor allem darauf an, mit was man den Bahnhof gefüllte hätte. Wäre der Bahnhof bis unter die Decke befüllt mit Gelee, lösten die Schallwellen der Durchsage ein Erzittern in der halbfesten Masse aus, und wer sich drauf verstünde, könnte den Sinn aus dem rhythmischen Erzittern des Gelees ableiten - und wüsste dann, wovon die Rede ist.
Der Zug, der angekündigt ist, der jetzt einfährt, ist auch hoch, das kann ich sehen. Allerdings ist er länger als hoch, wie es sich für Züge schließlich gehört. Dann verlässt er den Bahnhof in Richtung Norden. Was soll ich sagen. Ich glaube, in dieser Hinsicht wird die Wirklichkeit überschätzt.
Leute, die etwas wollen. Hat mir das nicht immer schon irgendwie imponiert? Nachher will sie in den ersten Stock, weitermessen. Zwischen die Stände. Buden aus Gussbeton. Integriert in Architektur, die Dazugehörigkeit nimmt der Bude ihre eigentliche Budigkeit. Ich bau dir eine Bude aus Spannbeton, Darling. Keine Bude, nein eine Buden-Vision! Der Zug fährt weiter. Lärm. Diese Durchblicke. Wie der Raum und seine Bedingungen immer deutlicher werden, mit den Jahren. Und er sich füllt. Der Raum ist etwas, das man lernen kann. Er füllt sich, wiewohl er beobachtbarer wird. Dass Lärm transparent ist, könnte mich andernfalls sehr verwundern. So etwas wird je wunderlicher desto müder man ist. Im Zustand höchster Ermüdung wird der Lärm dann opak. Und man wundert sich darüber überhaupt nicht mehr.
Die Dinge vereinfachen sich auf ihren Triebgrund hin. Ist denn wirklich alles so simpel und auf das immer wieder Simpelste zu reduzieren? Das Simpelste bleibt sich vorerst gleich, obwohl es freilich genauso unterworfen ist wie wir. Das Licht, ein Füllsel, das Licht kommt von der Seite, eine Atmosphäre aus Lärm. Wohingegen die Autos beinahe klingen wie Brandung. Blühende Bäume in meinem Rücken. Es gibt übrigens auch Bauarbeiter. Die tragen Neon. Verhalten zerstückte Durchsagen, die Hälfte verstehen oder etwas weniger. Es wird sich zeigen, dass es Angst gibt, die nötig war, und solche, die unnötig war. Es ist ein Mantelsystem. Ummanteln, ausmanteln. Die Angst lernen und verlernen. Gewiss kamen hier in der Planungsphase auch psycho-architektonische Erwägungen zum Tragen - den Passagieren eine Welt, in der sie wissen, wo sie sich befinden.
Oder auch etwas wie Kinderangst. Ein Beispiel dafür: Auf unermesslichen Bahnhöfen verloren gehen. Es fehlt die Übersicht. Ein anderes: Was die Eltern machen könnten. Das so prekäre Jugendalter, in dem einem alles peinlich ist - selbst die Tatsache Eltern zu haben. Das ist letzlich der Wunsch nach vollkommener Gleichförmigkeit, der die Jugendlichen verstockt, fesselt und in jede Richtung bewegt. Ich schaue auf. Da scheint sie zu zögern. Sich vermessen. Yeah. Bei Vermessen müsste man ja von vorne beginnen, es sei denn, man hätte ein Zwischenmaß genommen. Das Rot ist eigentlich ganz schön. Sie ist so klein, von hier aus gesehen, wie sie am anderen Ende des Bahnsteigs steht. Ähnelt sich das nicht irgendwann, frage ich mich. Ich vermesse vielleicht vier davon. Einen sehr großen, einen weniger großen und einen kleinen. Und dann noch einen, wegen der Vollständigkeit, die sich erst mit der Wiederholung einstellt. Wieviele Bahnhöfe würde ich ausmessen? Da, wo sie jetzt hingeht, ist niemand. Da wird die Silhouette in einen Ausblick hineingezeichnet. Auf der anderen Seite, die Kontrollgesellschaft, verinnerlicht, in mir.
Bleibt die Frage nach dem Sinn. Ein bisschen unrhythmisch ist es ja, dieses Messen. Plötzlich scheine ich in Münster vor dem Museum zu sitzen, und irgendjemand prügelt auf ein Klavier ein. Es hat auch etwas von hinken, wie der Zollstock sich bewegt. Ins Verhältnis-bringen, o Mensch, o Menschenbau. Andererseits - binnick Arckiteckt? Interessant ist, wie mir alles zur Kammer wird, wenn ich zu Reisen gezwungen bin, wie nennt sich nochmals diese von Roland Barthes aufgebrachte Qualität, sich den kargen Raum in Bewegung, in einen Denkraum umzuformen, in einen Arbeitsraum, in einen Ort, an dem Zeit nicht verloren geht, sondern Arbeit möglich ist. Proxemie - der Raum des vertrauten Blicks, so nennt Roland Barthes diese Qualität subjektiver Räume, insoweit das Subjekt sie affektiv bewohnt. Oder auch: das Gewohnheitsrevier. Manches Mal komme ich in das Großraumabteil wie in ein Wohnzimmer, von dem ich nur vergessen hatte, dass es das in meiner Wohnung auch noch gibt. Ich würde es nicht ausmessen. Aber ich erwähne dennoch, dass ich stolz auf mein Augenmaß bin. Ich kann gut packen. Ich sehe was passt und was nicht.
Nie habe ich mehr Zeit auf Bahnhöfen verbracht als in diesem Jahr. Die Frau am Tickettelefon sagte, und ich wusste da nicht, ob mitleidig oder anerkennend: Sie sind aber viel auf der Schiene unterwegs. Zurück: Wenn man aber sitzen bleibt, sind selbst diese Regionalbahnen recht schnell. Oder sie fahren zumindest mit einer gewissen Kraft an. Geschoben, gezogen. Sie sind jedenfalls groß. Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nicht tragen. Wieder sind die Freiräume in meinem Leben so extrem zusammengeschnurrt. Ich denke an eine dehydrierte Katze. Verfilzungsvorgang. Und diese Hüte auf kunsthandwerklichen Märkten, vor denen ich mich ekele, schon wenn ich sie sehe. Ich muss sie dazu gar nicht berühren, diese teuren, handgemachten, undurchsichtigen Hüte. Ich denke daran, dass ich packen muss.
Man könnte durchaus die Moderne befragen, nach Gewinnen und Verlusten im Zuge der Mobilität, nach der Qualität der Orte, die die Mobilität mit sich gebracht hat, aber da laufen doch noch einige Konfliktlinien mit. Ich muss doch schauen. Jetzt misst sie noch die Breite. Dann will sie dahin, wo die Läden sind. Ich denke, dass ich Hunger hab. Und wo, von hier aus besehen, mein Fahrrad steht. Ist das denn jetzt schon interessant. Nein, ist es nicht. Jemand geht in meine Richtung, zuckt zurück, verschwindet wieder. Als wär er mir ins Bild gelaufen. Die Züge kommen mir plötzlich so ungemein altmodisch vor, der Raum, in den sie einfahren scheint ihnen einiges voraus zu haben. Die Bank überträgt die Erschütterung, aber dieser Lärm entfernt jede Distanz aus dem Raum. Es ist wirklich so, halte ich fest, der Lärm vermüllt den Raum. Ganz voll ist er schon, der Raum. Da kann man zwar immer noch messen, aber der Lärm hinterlässt keine Spuren. Was eigentlich seltsam ist. Wie der Lärm den Raum füllt, ohne die Größe des Raumes zu ändern.
Werbung hängt hier und zwar für ein Buch, in dem Frauen gequält werden. Zumindest eine. Das Plakat wiederholt sich, ich sehe es sieben Mal an der Wand über den Gleisen. Verkaufsentscheidend. Ich denke an all das, was menschenmöglich ist. Dann denke ich: Es kommt aber auch auf die Qualität des stream of concsiousness an - und an einen Analytiker, dem das Unbewusste seiner Patienten fad geworden ist. So fad. Etwas, das so ausgedacht ist wie das Südkreuz. Diese äußerliche Atmosphäre ist aber doch ganz angenehm. Es ist auch nicht kalt. Was messen wir als nächstes aus? Bin ich unkonzentriert? Schreib endlich, wie das Südkreuz aussieht. Das Südkreuz ist das Südkreuz. Denke das Maß, die Vermessung, die Anmaßung und dann das Metrum, den Zollstock, seinen schlackernder Takt und wie er geführt wird. Das lässt sich leicht schreiben. Was fehlt denn noch? Alles mögliche fehlt. Und die Zeit vergeht sehr schnell. Immer wieder muss ich mir beweisen, dass keine Zeit gewesen ist. Das neu angepasste Maß. Es ist wohl doch etwas zu ändern. Ich schaue auf. Ich will zurück in die Berge.