Kassel HBF, 9. Vermessung
30. Juni 2007, Text: Kirsten Alers
Eine Begleitung ohne Lachen
Vor der Vermessung
Die Vermessung der Welt: nicht Gaus, nicht Humboldt – Wagner, Bettina Wagner. Die Vermessung der Sackbahnhofwelt. Documenta, 15. Tag, Vermessung der Weltkunstausstellungsperipherie. Messen mit Fußmaß, hessischem Fußmaß, gleich 25 Zentimeter. Messen mit Körpermaß: Fuß, Elle, Spanne. Bettina misst sechs hessische Fuß, ich messe 6,9 hessische Fuß. Verzicht auf Verstehen, Verständnis, Mission (wie bei Lili Dujourries „Roman“, „Sonate“ etc). Dagegen die Poetik des Handelns, Zeichen gegen Fragezeichen. Kein Warum, es gäbe keine Antwort. Das Überwinden des Warum. Das Konzept liegt in der Erscheinung. Ich erwarte ... etwas. Ich fahre mit der Straßenbahn zur Bahnhofsvermessung. Und das Kind mit dem Plüsch-Elch? Und der Möchtegern-Schwarzenegger? Und der Rastazöpfige mit seiner Tochter? Und der Junge mit den Narben auf den Armen? Und die junge Frau mit dem roten Cello-Koffer? Und die Frau mit dem weißen Kopftuch? Und das Mädchen mit dem Knutschfleck? Ich frage nicht. Schon mal zur Probe. Ich schaue. Vermessung: Anspruch absoluter Objektivität – Körper: das absolut Subjektive.
Bahnhof: Ankunft – Abfahrt.
Sackbahnhof: Ende der Welt. Endstation Kassel.
Während der Vermessung
Bahnsteig Gleis 9 – weil ich hier angekommen bin, sagt sie –, 18.30 Uhr, die Uhr steht, nein, der Sekundenzeiger steht, auf Nord. Wir gehen westwärts. Test the West. Alle Signale rot. Die Berge schwarz. Bettina ist rot gekleidet, eine rote E-Lok glotzt mit ihren Lichtern gen Westen, uns entgegen. Wir messen gen Osten, hinein in den Sack. Schwarzer Stift für außerhalb der Wohnorte. Meine Hose schwarz, meine Jacke rot mit schwarzen Streifen, rot-schwarze Spielzeuglok auf Bahnsteig 6/7, roter Sanitäts-, roter Löschmittel-, roter Gerätewagen auf Gleis 12. Schwarzer Himmel über Kassel. Messen von Dachpfeiler zu Dachpfeiler. Die RT 5 aus Melsungen auf Gleis 8. Bis zur Bank x Fuß, Banklänge 12 Fuß, bis zum Kofferkuliständer y Fuß, bis zur Taubenscheiße, bis zum Dreiecksmülleimer mit Regenschirm im Restmüllloch, bis zur dritten Bank (ohne Pisselache), bis zur Infovitrine (nahezu leer, das ist Kassel), bis zur vierten Bank (mit Trinktüten, leer, darunter).
Roter Metallfahrplanhalter. Rote Bahnhofshausordnung. Diese Ernsthaftigkeit unter der roten Mütze! Bis zum Süßigkeitenautomat. Keine Telefonzelle, kein Wartehäuschen auf dem Bahnsteig. Ein Junge in roter Jacke fragt B.: Was machen Sie?, und ist mit der Antwort zufrieden. Und die Breite des Bahnsteigs. 18.52 Uhr, Ende der Bahnsteigsvermessung. Höhe Eingangsschiebetür 9,5 Fuß, Breite der Eingangsschiebetür 7 Fuß. Diese Ernsthaftigkeit mit dem schwarz-roten Stab! Rote „2.00“ an den Schließfächern. 59,5 Fuß Breite der Querhalle vor den Gleisen. „KA2“ gedruckt auf den Fliesen. Die Verlängerung des K führt zu einem vor Sturm und Starkregen geschützten Türenkunstwerk: Stellwerk, Ausstellungseröffnung. Einer der ausstellenden Künstler lädt mich ein. Ich bin beschäftigt, schau mal, die mit der roten Mütze dort, bis später vielleicht und danke, sage ich. KA2 hat auch geöffnet, später.
Die Menschen laufen, wenden die Köpfe und flüstern. Die Bahnpolizei lächelt, einer der Herren fragt Bettina und sagt nach der Antwort: Prima, dann machen Sie mal weiter.
Wo bleibt das Warum? Wo ist das Warum-Bedürfnis?
Die Mitte: ein schwarzer Gummifliesenstreifen, der an rot-weißem Zaun endet, am Abgrund zur neuen Regiotramstrecke. Am Kopf von Gleis 1 Was-auch-immer-aus-OSB-Platten-Quader.
19.11 Uhr, Ende der Querhallenvermessung. Den kleinen Seitenausgang habe ich noch nie bemerkt. Ich ruhe mich auf den Quadern aus. Wie viele Fuß sie messen, ist mir egal. Und die Vermessung der Eingangshalle von West nach Ost, bis zu den Kapitelsäulen, die Imitationen sind, unten sieht man ihr ziegeliges Innenleben. Bis zur türlosen Eingangstür, und der Penner guckt nicht, und die Breite der Eingangshalle vom roten Vorhang (Konzertabsperrung) bis zu Burger King, die Durchgänge zwischen den Imitationssäulen 13 Fuß (rechts), 12,5 Fuß (Mitte), 13 Fuß (links).
Bettina prüft eine metallische Säule mit ihrer Messlatte, drei kleine Jungen mit ihren Füßen. Bis zu den Tauben kann man nicht messen, sie bleiben nicht an Ort und Stelle wie ihre Scheiße.
Es ist 19.30 Uhr, immer noch keine Frage nach dem Warum. Auch nicht von der jungen Frau, die ich grüßt, aber gar nicht guckt, weil sie ihren Weg hat, zur Ausstellung. Ich auch, später vielleicht, sage ich. Die Strecke zwischen den Eisenträgern des Kuppeldaches der Eingangshalle z Fuß. 19.40 Uhr – das Wichtigste ist vermessen, sagt Bettina.
Nach der Vermessung
Was ist das Wichtigste an einem Bahnhof? Die Gleise, die Züge, die Fahrpläne, die Signale, die Höhe, die Breite, die Menschen, die Abschiede, die Wehmut?
Es zieht. Man hat sich nichts zu sagen im vermessenen, den Vereinzelten nicht angemessenen Bahnhof. Die Fliesen sind gestern endlich fertig geworden, der Geschäftsführer des Kulturbahnhof. Er trinkt mit uns und lächelt abwesend.
… ... Die Straßenbahn fährt mir vor der Nase weg. Ich bin allein mit der Erfahrung, die ich nicht einordnen kann. Auch ich habe nicht nach dem Warum gefragt. Und traue mich nicht zu lachen.