Bad Sobernheim, 19. Vermessung
29. Mai 2009, Text: Wilhelm Meyer
Bad Sobernheim, 29.5.2009, 18.00 Uhr
Die Frau in Rot, vorm Bahnhof. Kurzer Handschlag vorm "wieder fremd werden". Nicht zur Gänze: Rot! Der rote Rucksack ist hochgeklappt, ocker quillt heraus und aus dem roten Overall schaut ein schwarzes T-Shirt spitz hervor. Na, und dann noch die Schuhe. Das wäre ein Einfaches gewesen, sie rot zu haben. Ihr Schwarz dürfte kein Zufall sein. Auch der Stab, mit den Einteilungen zum Messen, lustig willkürlich, Alfons der viertelvorzwölfte fällt mir ein, wechselt von Rot zu Schwarz, von den Schuhen über den Overall zum T-Shirt. Dennoch, Rot bleibt dominant. Und so quillt es auch anderswo hervor. Im Verbotsbalken eines Schildes, der die Abbildung einer Zigarette nach hinten drückt, am Fahrkartenautomaten, in den Punkten der Lichtanlage, insgesamt jedoch wenig. Von der Reihe all derer, die gekommen sind, um sich die Vermessung anzusehen, hat niemand einen Zipfel Rot. Erst mit einer Zugeinfahrt taucht fast der ganze Bahnhof ins darein, ins Regiorot, ganz ähnlich dem der Vermesserin, doch ohne den Hauch von Blau. Der dreiwagige Zug nach Frankfurt. Selten fährt ein längerer Zug hier durch. So viel rot ist in beide Richtungen nur einmal die Stunde zu bekommen.
Erstaunlich, wie wenig auf dem Bahnhof los ist. Wenn es danach ginge, wo was los ist, sind wir auf dem falschen Gleis, auf dem falschen Bahnhof, zur falschen Zeit.
Gleis eins ist für die Aussteiger. Die kommen von Mainz oder Frankfurt. Die von hier fahren würden, müssten nach Kirn und weiter. Wer will das schon? Ein Einziger ist da. Der beschwert sich. Er will nicht fotografiert werden. Die jugendliche Grundmotzigkeit, alles in kurzen Sätzen ausgekotzt. Das also ist Rapp vor Ort. "Fotografiert werden" kann ihm nur so lange passieren, wie die Vermessungen in seiner Nähe stattfinden. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, also auf dem anderen Bahnsteig, fotografiert jemand. Aber aufzustehen, einen Schritt beiseite zu treten, ist ihm das Ganze schließlich doch nicht wert.
Fast aus dem Augenwinkel fixieren die wenigen Wartenden gegenüber das Geschehen. Zu viele, die fotografieren. Das hebt die Vermessung hervor. Das Tun bleibt nicht nah genug an möglichem Anderen, an Alltäglichem. Es wird gleich vom Besonderen her gedacht. Fehlt, dass es gefilmt würde. Ich tue meinen Teil hinzu. Seltsam nebeneinander läuft alles im Bahnhof ab. Die Wege sind länger als erwartet. Unsinnig lang die Gleise und merkwürdig schmal. Wie viele dieser Messstöcke werden es sein? Wie würde eine Panik hier ablaufen? Kaum drei Menschen können nebeneinander gehen. Die am Bahnhof übliche Eintragung von der Höhe über dem Meeresspiegel. Da ist sie. Als Kind habe ich jeden Bahnhof vom Zugfenster aus danach abgesucht. Dann geriet diese Quelle des Wissens in den Hintergrund. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr der Faszination, die die Tafeln früher auf mich geübt haben. Sobernheim war nie darunter. Was hätte es auch meinen kindlichen Horizont verschoben, zu sehen, wie der für sicher gehaltene Wert auf der Tafel in Sobernheim 152,133 mit einem aufgemalten 152, 243 korrigiert scheint. Aber plötzlich ist die Erinnerung wieder da.
Am Schnellimbiss vorm Bahnhof, an der rechten Seite, wird aggressives Geschrei deutlich. Menschen halten andere vor anderen zurück. Kurz vor einer Schlägerei, oder schlimmer noch, einem Schlag. "Komm hoch du Scheißer, du Wixer! Hau ab du Arsch!" Ich notiere mir das Nummerschild.
Wie schön und friedlich im Umwenden dann wieder das Ausmessen. Wenn so wenig gewollt wird, wie mit einem Stock, die Strecken eines Bahnhofs auszumessen, müsste viel Platz für Zufälliges bleiben. Aber das Messen ist schon äußerst konzentriert. Auch am äußersten Ende, wo weit, mich ausgenommen, und breit kein Betrachter mehr dabei ist. Vor allem die Aufzeichnungen in den kleinen Block. Fast so als müsste der Stift erst noch angeleckt werden. Kein Rodinscher Denker, eher die kindlich vergessene Konzentration, wo das Gesicht sich auch verlieren kann. Wie schön wäre es, wenn es eine Papierrolle wäre, in die die Werte eingetragen werden. Zum Datenvergleich müsste sie später so weit abgerollt werden, dass wieder ein Bahnhof von Vorteil wäre. Noch dazu ein wenig belebter Bahnhof.
"Warum machen Sie das?", fragt ein Passant. "Es ist eine Leidenschaft von mir Bahnhöfe zu vermessen." Ich versuche das Maß zu ergründen. Sechs Teilbereiche hat der Messstock, in der Länge etwa die Größe seiner Trägerin. Die Länge des Bahnsteigs scheint ermessen, die wechselnde Breite auch, es folgt das Gebäude. Bad Sobernheim hält seinen Bahnhof geschlossen. Kostensparend, wohl. Auch ungenutzt hat das Gebäude schöne Ecken. Auffällig wie die Waschbetonkübel am Kopf höher als breiter aussehen. Die Messung ergibt, dass die Seiten gleich sind, ein Quadrat. Ende Juni könnten sie gefüllt sein, mit Erde und Blumen. Aber unsere Nachbarn finden schließlich auch, dass Bäume Dreck machen. Kosten wären es allemal. Kosten macht wohl auch das Wegschaffen solcher nunmehr sinnlosen Brocken. Diese Kübel sind eigentlich nur zu ertragen, wenn überquellende Blumen sie verbergen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich sie bei einem anderen Bahnhofsbesuch überhaupt bemerkt hätte. So, ohne Blumen, sind sie allerdings leichter zu vermessen. Leere Gläser sind ja auch leichter zu tragen. Ein Waschbecken, bzw. Wasserbecken steckt in der Wand des Bahnhofgebäudes. Das dürfte schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch gewesen sein. Schön sich zu erinnern, dass Wasser, Trinkwasser einmal zur Grundausstattung von öffentlichen Räumen gehört haben muss. Das Gebäude wird vermessen, die Fenster, Stufen. Ebenfalls die Bänke, die davor stehen, waren Aufzeichnungen wert. Auffällig noch ein roter Würfel vor der ehemaligen Eingangshalle. Ein Werbeträger mit Aufschrift der SPD vor den Kommunalwahlen. Wer das schönste Foto vom Würfel macht, gewinnt einen Rundflug über Sobernheim, war zu erfahren. Welch eine Gelegenheit, festzustellen, dass die Frau in Rot, gutmütig genug ist, nach getaner Arbeit anderen Menschen einen Flug über Sobernheim zu gönnen.